Im Theaterstück „Faust“ fehlten dem Stadttheater Schaffhausen am Dienstagabend einige wichtige Elemente. Dafür gab’s eine Überraschung. Eine Theaterkritik von Hermann-Luc Hardmeier.
Bild: Gretchen und der «Kneipenfaust» in einer verkürzten Fassung: «Heinrich! Mir graut’s vor dir.» (Bericht: Hermann-Luc Hardmeier, Foto: Selwyn Hoffmann)
Halbnackt sitzt er auf dem Tisch. Er isst Wiener Würstchen und trinkt den Wein direkt aus der Flasche. Am Dienstagabend präsentierte sich im Stadttheater den Besuchern ein Faust, der auf den ersten Blick wenig mit dem Protagonisten von Goethes berühmtem Drama zu tun zu haben schien. Das Publikum sah nicht einen Universalgelehrten, der nach dem Sinn des Lebens suchte, sondern einen „Kneipenfaust“, der abgewetzte Manchesterhosen trug. Das Landestheater Tübingen hatte sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Sie wollten den über 200 Jahre alten Klassiker ansprechend umsetzen und die tragische Liebesgeschichte zwischen Faust und Gretchen ins Zentrum stellen. Um es vorweg zu nehmen: Das Ziel wurde erreicht. Das Stück hatte Tempo, beeindruckte durch die Schauspieler und war kurzweilig und unterhaltsam gestaltet. Beim zweiten Blick gab es aber auch eine kleine Enttäuschung: Den Kürzungen waren Elemente zum Opfer gefallen, die für die Interpretation der Geschichte sehr wichtig sind. Komplett fehlte beispielsweise der Prolog im Himmel. Der Teufel wettet dort mit Gott, dass er Faust vom rechten Weg abbringen kann. Zum Schluss des Theaters ist Fausts Schwarm Gretchen im Kerker und schickt ihn mit den Worten fort: „Heinrich! Mir graut‘s vor dir.“ So endete allerdings nur die Vorstellung im Stadttheater. In der Originalversion ergänzt der Teufel „Sie ist gerichtet“, worauf Gott anfügt „Ist gerettet.“ In der Tübinger Version endet somit die Geschichte traurig und weltlich, bei Goethe hingegen ist Raum für Interpretation vorhanden und der Grundstein für „Faust II“ bereits vorbereitet.
Geniale Änderung
Dass eins der drei Vorworte namens „Zueignung“ oder die Kapitel „Auerbachs Keller“ und „Walpurgisnacht“ den Kürzungen zum Opfer gefallen waren, mag verkraftbar sein. Doch nur zu gern hätte man die Verwandlung eines süssen Pudels in Mephisto erlebt. So fehlte am Dienstag auch die Erkenntnis: „Das also war des Pudels Kern“. Trotz dieser Kürzungen hatte das Stück viele Stärken. Genial war die Idee, dass Faust nach dem Teufelspakt nicht mit einer Perücke verjüngt wurde, sondern begleitet von Donner und Blitzlicht mit Mephisto die Rolle tauschte. Diese Erzählart hatte Tiefgang und Klasse. Denn nun lag eine ganz neue Leseart der Story nahe: Wird Faust durch den Teufelspakt selber zu Luzifer? Sein Verhalten spricht dafür: Vier Leichen, eine geschändete Frau und ein hedonistisches, selbstgefälliges Streben nach Glück. Derzeit läuft im Schauspielhaus Zürich eine fast achtstündige „Vollversion“ von Faust 1 und 2. Ein spannendes, aber echt hartes Stück Arbeit. Fürs Theater sollte das Drama gekürzt werden. Die Tübinger Version von Christoph Roos hat dafür einen interessanten Weg gewählt. Gretchens fehlende Erlösung und den Verzicht auf den süssen Pudel schmerzten Goethe-Fans dennoch ein wenig.
Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am 23. Januar 2020.