Ohne Finanzkrise wäre Hitler nicht Reichskanzler geworden

Historiker Tobias Straumann erklärte beim Zoom-Vortrag des Historischen Vereins Schaffhausen, warum er mit den Schulbüchern über Hitler nicht einverstanden ist. Von Hermann-Luc Hardmeier.

(Bericht: Hermann-Luc Hardmeier. Bilder: shn.ch, Key)

«Ich sehe es anders, als es in den meisten Schulbüchern steht», erklärte Historiker Tobias Straumann den 80 Zuhörern beim Zoom-Vortrag des Historischen Vereins am Dienstagabend. Der Börsencrash von 1929 führte zum Untergang der ohnehin totgeweihten Weimarer Republik, das ist für ihn eine zu einfache und verzerrte Darstellung. Straumann erklärte, dass die erste Demokratie in Deutschland durchaus Überlebenschancen gehabt hätte. Und dass nicht 1929, sondern 1931 das entscheidende Jahr aus seiner Sicht gewesen sei.

Nicht tragbare Reparationszahlungen

Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Alliierten den Deutschen mit dem Versailler Vertrag nicht nur die alleinige Kriegsschuld, Gebietsabtretungen, Warenlieferungen und mehr auferlegt, sondern auch für damalige Verhältnisse unrealistisch hohe Wiedergutmachungszahlungen. «Man versäumte es, diese Reparationszahlungen in der Rezession zu Beginn 1930er deutlich zu senken, um sie tragbar zu machen», erklärte Straumann.» So war die deutsche Regierung unter Kanzler Heinrich Brüning gezwungen, mitten in der Wirtschaftskrise einen Sparkurs einzuschlagen, der verheerende Auswirkungen hatte.

Im Sommer 1931 war Deutschland nicht mehr zahlungsfähig, die Banken brachen zusammen, und die darauf folgende Einstellung der deutschen Zahlungen schob die Weltwirtschaft in eine tiefe Depression. «Wir befinden uns in einer selbstmörderischen Umarmung, bei welcher wir alle ertrinken werden», bedauerte der spätere britische Premierminister Neville Chamberlain den Zustand.

Young-Plan als Feindbild

«Der Teufelskreis von Schuldendienst und Rezession verstärkte sich », so Straumann. «Dies führte zu einer politischen Polarisierung.» Die Nazis hatten nach Hitlers gescheitertem Putsch 1923 und den Golden Twenties kaum noch eine Bedeutung gehabt. Nun konzentrierten sie ihren Wahlkampf aber gezielt auf die Ablehnung des Young-Planes. Eines neuen Reparationsplans, der ab 1930 galt – mit einem riesigen Erfolg. Von einer unbedeutenden Partei wurden sie mit 18% in den Septemberwahlen 1930 zur zweitstärksten Kraft im deutschen Reichstag. Im Juli 1932 holten sie sogar 37.4%. Auf Plakaten warben Hitlers Leute damit, dass man gemäss Young-Plan noch während drei Generationen für Schulden zahlen müsse. Das traf exakt den Volksnerv und die Rechnung ging auf. «Die Nazis waren vor 1930 bedeutungslos, der Fokus auf die Reparationsfrage in Kombination mit der Schuldenkrise erklärt den Dammbruch», so Straumann. «Nicht nur Hitlers antisemitische und antikommunistische Rhetorik, sondern auch die Finanzkrise war entscheidend für das Ende der Weimarer Republik.»

Kritik an den Schulbüchern

In der Diskussion nach dem Vortrag kritisierte eine Zuhörerin diese Deutungsweise. Sie strich die Bedeutung des Militarismus, des Nationalismus und des Frustes der deutschen Bevölkerung hervor. Straumann entgegnete, dass er diese Punkte durchaus für sehr wichtig halte. «Ich würde aber die Gewichtung anders setzen, als sie in den Geschichtsbüchern vorgenommen wird», erklärte er. «Die Finanzkrise von 1931 wird meiner Meinung nach völlig unterschätzt.» 1932 beendeten die Alliierten übrigens die Reparationszahlungen, was zu einer wirtschaftlichen Erholung führte. Dazu bilanzierte Straumann: «Ich bin überzeugt, wären die Wahlen wie ursprünglich vorgesehen erst 1934 gewesen, hätten die Nazis prozentual viel schlechter abgeschnitten. Vielleicht hätte die Weimarer Republik überlebt, und wir würden ganz anders über jene Zeit sprechen.»

Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am 21. Januar 2021.