Martin Suter „korrigiert“ seinen Roman

Von Hermann-Luc Hardmeier: Die Interpretation des Schlusses seines Buches missfiel dem Schweizer Erfolgsautor. Jetzt ist der Schluss umgeschrieben, irgendwie unlogisch, aber dafür eindeutig. Eine Buchbesprechung von Hermann-Luc Hardmeier.

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Das ist eher eine Seltenheit in der Literaturszene. Ein Autor und Schriftsteller ist im Nachhinein unzufrieden mit seinem Buch bzw. mit dem, was die Leser aus seinem Buch machen und greift zum Rotstift. Die Rede ist vom Buch „Die Zeit, die Zeit“ von 2012.

Natürlich gibt es viele Beispiele von Schriftstellern, die bereits das Gleiche gemacht hatten. Am konsequentesten dabei war sicherlich Johann Wolfgang von Goethe mit seine „Werther“. Als er das Buch damals in der „Sturm und Drang“-Zeit schrieb, war es voll von revolutionärem Geist und angriffigem Material. Als Goethe später in den Staatsdienst trat und sich in der Epoche „Weimarer Klassik“ wiederfand, mochte er nicht mehr der Autor sein, der Vaterfigur eines revolutionären Romanes war. Er strich und veränderte das halbe Buch. In seiner Schlussversion war Werther nicht mehr der Stürmer und Dränger, sondern eine von Selbstzweifeln zerfressene Person. Das Buch war – man verzeihe die direkte Sprache – billig langweilig geworden. Kein Wunder, wird auch heute noch die Originalversion verkauft. Die zensierte Version gibt es nur im Paralleldruck mit der ursprünglichen Fassung. So kann der Leser genau mitverfolgen, was verändert wurde.

Ob das Buch „Die Zeit, die Zeit“ mit „Werther“ verglichen werden kann, dies kann man schnell verneinen. Der Vorgang der Korrektur durch den Autor persönlich, ist hingegen durchaus vergleichbar.

Im Buch von Martin Suter geht es darum, dass die Hauptfigur Peter Taler durch einen Mord vor der eigenen Haustür die geliebte Frau Laura verliert. Der Grund war seiner Meinung nach, dass er die Haustür zu spät geöffnet hatte. Er schottet sich ab und tröstet sich mit Bier und einem eintönigen Alltag. Sein Nachbar, der alte Knupp, wird bald zu einer wichtigen Bezugsfigur. Dieser hat seine Frau vor 20 Jahren verloren und lebt in sehr bizarren Vorstellungen. Knupp ist der festen Überzeugung, dass es keine Zeit, sondern nur Veränderungen gäbe. Diese Veränderungen kann man rückgängig machen und somit auch den Lauf der Dinge für ungültig erklären. Konkret: Der alte Knupp will seine Frau zurück. Damit ihm das gelingt, will er sein Haus und das ganze Quartier in den Zustand vor 20 Jahren zurückversetzen. Er rekonstruiert den Todestag seiner Frau bis ins kleinste Detail. Nicht inhaltlich, sondern baulich. Ja baulich! Alles soll so aussehen wie damals. Vom Teppich in der Wohnung bis zur Baumhöhe im Garten. Er ist sich sicher: Wenn alles so aussieht wie damals, kehrt seine Frau zurück und man könnte einen anderen Weg einschlagen, bei welchem er weiterhin eine glückliche Ehe führt. Taler lässt sich durch Neugierde und Erpressung von Knupp für das Experiment einspannen. Es werden Büsche zurückgeschnitten, alte Autos organisiert und Fassaden neu gestrichen. Alles wird penibel und akribisch rekonstruiert. Dies macht den Roman zwar stückweise etwas mühsam zum Lesen, doch man gibt nicht auf. Denn jeder will wissen: Klappt das Experiment? Kehrt die verstorbene am Ende zurück?

Das Buch ist seit drei Jahren auf dem Markt. Da Martin Suters Veränderung nicht verständlich erklärbar ist, wenn man den Schluss nicht kennt, muss er an dieser Stelle verraten werden:

Das Experiment glückt und die Verstorbene erlebt eine Wiederauferstehung. Es passiert jedoch etwas Schockierendes: Taler entlarvt Knupp. Der alte Nachbar hat Laura erschossen, damit Taler depressiv genug wird, um ihm beim Experiment zu helfen. Taler ist ausser sich. Er betrinkt sich, tötet Knupp und schläft ein.

Mit diesem Ende könnte die Geschichte auch als Traum von Taler gelesen werden. Manche Leser fanden dies gut, andere bezeichneten dieses Ende als „billigen Trick“. Diese Interpretation hat Martin Suter sehr geärgert, denn er wollte mehrere Interpretationsmöglichkeiten anbieten, und nicht als Taschenspieler bezeichnet werden. Deshalb hat er den Schluss umgeschrieben. Es sind nur wenige Sätze, doch diese haben es in sich. Taler trinkt nur ein einziges Glas Wein. Er bleibt wach und schreibt ein Geständnis nieder, warum er Knupp getötet hat. Er trifft danach auf die quicklebendige Laura und umarmt sie heftig. Da Laura zu diesem Zeitpunkt nichts von ihrem Tode weiss, reagiert sie nicht fröhlich, sondern sogar etwas genervt über die plötzlichen Zärtlichkeiten.

Nun ist das Ende eindeutig. Es gibt keine Interpretationsmöglichkeiten mehr und auch keine Zweifel mehr. Ob das Buch dadurch besser geworden ist, sei dahingestellt. Die ganze Geschichte mit dem Experiment war ja ohnehin nicht sonderlich logisch. Warum braucht diese Traumreise ein so präzises Ende?

Die Veränderungen von Goethes „Werther“ waren enttäuschend und auch das Vorgehen von Martin Suter enttäuscht ein wenig. Zwei schöne Bücher sind mit einer groben Schere zensiert worden. Was gibt es Schöneres, als dass jeder ein Buch so interpretieren kann, wie es für sein Verständnis stimmt. Man kann nur hoffen, dass die Zeit, die Zeit auch über die neue Version von Martin Suters Buch hinweggeht und wie bei Goethe die Originalversion des Buches von den Lesern bevorzugt wird.

Von Hermann-Luc Hardmeier. 11. September 2015.

(Quellen: Tages Anzeiger und FAZ)