Wenn das Wohnzimmer zum verbalen Boxring wird

Im Theaterstück «Gott des Gemetzels» eskalierte ein Streit unter vermeintlich vernünftigen Erwachsenen. Eine Theaterkritik von Hermann-Luc Hardmeier.

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Eskalation: Gastgeberin Veronique stieg auf das Sofa, als Anwalt Alain sie bis zur Weissglut reizte. (Foto: Selwin Hoffmann. Bericht: Hermann-Luc Hardmeier)

Die Haupthandlung des Stücks «Gott des Gemetzels» wäre eigentlich schnell erzählt. In der Schule gab es Streit zwischen zwei Kindern. Zwei Elfjährige haben sich geprügelt, dabei schlug der eine dem anderen mit einer Stange zwei Zähne aus. Die beiden Elternpaare treffen sich zu einem klärenden Gespräch. Doch diese Unterhaltung eskalierte ziemlich schnell. Das Stück von Yasmina Reza wurde 2006 uraufgeführt und ist spätestens seit der Kino-Adaption aus dem Jahr 2011 von Roman Polanski weltbekannt. Am Dienstagabend wurde nun die Inszenierung von Tobias Maehler im Stadttheater Schaffhausen aufgeführt. «Der Kunstgriff bei dieser Aufführung ist, dass die Kinder selbst nicht da sind und die Eltern sich immer mehr ihr eigenes Loch schaufeln», sagte Jens Lampert vom Stadttheater Schaffhausen im «Talk im Theater» kurz vor der Aufführung. Zunächst geht im Wohnzimmer der Opfer-Familie alles sehr gesittet zu. Bei Gebäck und Kaffee versuchen die Eltern, sich zu einigen. Auf beiden Seiten herrscht viel Verständnis. Selbstverständlich werde die Versicherung für die Schäden an den Zähnen aufkommen und man fragt, ob es möglich sei, dass der Täter sich beim Opfer entschuldigen könnte. Die zwei Familien tauschen oberflächliche Nettigkeiten aus und scheinen gewillt, das Thema unbürokratisch lösen zu wollen. Während des Gesprächs wird jedoch klar, dass auch die Erwachsenen keine lumpenreine Weste haben. Michel, der Vater des Opfers, hat offenbar den Hamster der Tochter ermordet. Mutter Veronique hat ein Alkoholproblem und bei der Täterfamilie wird Vater Alain nonstop von Handyanrufen unterbrochen. Als Anwalt einer Pharmafirma versucht er, einen Medikamentenskandal zu vertuschen. Als die Mutter von Michel anruft und offenbar Opfer genau dieses Medikamentes geworden ist, eskaliert der Konflikt. Annette, die Mutter des Täters, beschuldigt Michel als Hamster-Mörder und übergibt sich über das Lieblingsbuch von Veronique. Weil Alain seine Handysucht nicht bändigen kann, versenkt sie sein Smartphone kurzerhand in der Blumenvase. Beide Paare beginnen sich gegenseitig und untereinander zu zerstreiten. Das Publikum kugelte sich dabei vor Lachen, weil das schwere Thema in eine so amüsante Komödie verpackt war. Im Visier war vor allem das Selbstbild der Figuren. Gegen aussen sahen sie sich als gebildet und kultiviert, letztendlich waren sie aber infantile und brutale Wesen. Zum Schluss schrien sie sich an, tranken hemmungslos Alkohol, prügelten sich, zerrissen das Blumengesteck leidenschaftlich und beschimpften sich mit wüsten Worten. Eigentlich hält das Stück der Gesellschaft den Spiegel vor Augen: Sind die Erwachsenen wirklich fähig, Konflikte kultiviert zu lösen? Das Wohnzimmer wurde zum verbalen Boxring, der Yasmina Rezas Gesellschaftskritik herrlich humorvoll aufzeigte.

Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am 2. November 2023.