Philosophiekurs mit dem anatolischen Möchtegern-Bundesrat

Der Berner Sänger Müslüm“ trat am Donnerstag mit seinem ersten Comedyprogramm „MüsteriüM“ in der Kammgarn auf. Von Hermann-Luc Hardmeier.

Bild: Mit Hüftschwung und Tiefgang zog Müslüm die Besucher in seinen Bann. (Foto: Melanie Duchene, Bericht: Hermann-Luc Hardmeier).

Die ganze Kammgarn tanzt, schwitzt und singt aus vollen Kehlen den Hitsong „Süpervitamin“ mit. Die Bierflaschen werden angesetzt und die Stimmung nähert sich dem Siedepunkt. Was normalerweise die Konzerte von Müslüm prägt, suchte man am Donnerstagabend in der Kammgarn vergebens. Auf den ersten Blick wirkte das Arrangement etwas enttäuschend. Die Tanzfläche war mit Stühlen und Tischen ausgestattet, die Besucher sassen leise flüsternd in Reih und Glied vor der Bühne. Dort standen Müslüm und ein Gitarrist fast ein wenig verloren vor ihren Gästen. Doch Der Berner Entertainer Semih Yavsaner hatte sich an diesem Abend neu erfunden. Nicht mit lauter Musik, sondern mit tief-philosophischen Botschaften wollte er die Gunst des Publikums gewinnen. Verpackt in eine deftige Portion Humor. Das Arrangement erinnerte ein wenig an das Konzept der Tragikomödie des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt. «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat», sagte er einst. Damit die Leute aber überhaupt zuhören, versteckt man die schwere Kost hinter der Fassade der Komödie. Müslüm bediente mit seiner Mono-Augenbraue und dem türkischen Akzent viele Klischees. Als er die Bühne in seinem glänzenden türkis funkelndem Anzug betrag, musste man sich ein Kichern verkneifen. «Warum weinen wir bei der Geburt, wenn die Gesellschaft von uns erwartet, dass wir das ganze Leben lang lächeln?» Wow. Schon der erste Satz des Abends machte klar: Hier stand kein türkischer Peach Weber auf der Bühne. Müslüm sprach über die «Essenz des Lebens», über die Bedeutung von Wörtern und darüber, dass das Leben ein «MüsteriüM» sei. Man könne einen perfekten Moment der Erleuchtung nicht einfach mit der Plattitüde «Ich habe Gänsehaut» beschreiben. Die Worte seien ein hinderliches Gefängnis. «Wenn du mit der Zunge sprichst, hört es das Ohr. Wenn du aber mit dem Herzen sprichst, hört es das ganze Universum.» Die Gedankenwelt des verkleideten Philosophen wurde immer wieder durch amüsante Episoden aus dem Leben von Müslüms Vater, humorvollen Songs und dem unglaublich faszinierenden Gitarrenspiel von Raphael Jakob aufgelockert. Die zwei harmonierten perfekt auf der Bühne, als wie wenn ein anatolischer Ghandi auf Jimmy Hendrix treffen würde. Der Sänger liebte es, Klischees und gesellschaftliche Zwänge zu demontieren. Mit Aussagen wie: «Eines Tages werde ich Bundesrat. Als erste Amtshandlung schaffe ich das «ich» ab, damit wir wieder ein Kollektiv werden», kämpfte er gegen die Ellbogengesellschaft und machte sich auch stark für die Migration: «In der Schweiz wächst das Geld auf dem Boden. Oder warum haben alle Gastarbeiter Rückenschmerzen, wenn sie sich danach bücken?» Müslüms Odyssee durch die unergründlichen Tiefe des menschlichen Seins zog die Besucher gekonnt in den Bann. Abgerundet wurde der Abend durch einen herrlichen Zugabe Song über einen Bandscheiben-Vorfall. Dürrenmatt hätte seine Freude daran gehabt.

Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am 5. Dezember 2021.