Es gab im Zweiten Weltkrieg kein explizites «stay at home»-Gebot

Das Notrecht des Bundesrates und die Einschränkungen des öffentlichen Lebens: Immer wieder werden Parallelen zwischen der Corona-Krise und dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Vier Schaffhauser Historiker äussern sich dazu, ob dieser Vergleich zulässig ist. Von Hermann-Luc Hardmeier.

„Das waren nicht sieben Bundesräte, das waren sieben Diktatoren“, erzählte eine Zeitzeugin, deren Familie während dem 2. Weltkrieg einen Teil ihrer Ernte an den Staat abgeben musste. Das Notrecht und die behördlichen Massnahmen sorgten damals für ähnlich viel Gesprächsstoff wie heute während der Coronakrise. Doch kann man aus historischer Sicht zwischen 2020 und den Kriegsjahren 1939 bis 1945 überhaupt Parallelen ziehen? „Das ist kaum miteinander vergleichbar, ausser man übernähme die politische Rhetorik, die von einem „Krieg“ gegen das Coronavirus spricht“, erklärt Staatsarchivar Roland E. Hofer. „Was sich am ehesten vergleichen lässt, ist die Ausnahmesituation.“ Historiker Matthias Wipf erklärt die damalige Bedrohungslage: «Die Unsicherheit und Nervosität der Menschen lag daran, dass unser Land während des 2. Weltkriegs von den Achsenmächten fast gänzlich umschlossen war. An den Brücken über den Rhein waren Sprengladungen und man fühlte sich als Zitat ‚verlorenen Zipfel jenseits des Rheins‘. Mit einem Angriff von Hitler musste man fast immer rechnen. Das ist dann doch nochmals eine andere Situation als bei Corona!» Die Unsicherheit von damals und heute, so Wipf weiter, habe zudem einen entscheidenden Unterschied: „Während der Kriegsjahre konnte der Feind – die Nazis – klar benannt werden. Während die Ängste heute sehr diffus sind.“

Foto: Bericht über die Mobilmachung der Schweizer Armee im 2. Weltkrieg in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“. (Quelle: www.shn.ch)

Hamsterkäufe und die SBB

2020 sollen die Menschen zu Hause bleiben, Distanz halten und sich nicht in Gruppen mit mehr als fünf Menschen treffen. Sind diese Massnahmen ähnlich wie jene der Kriegsjahre? „Es gab damals zwar kein explizites Stay-at-Home-Gebot, aber im zweiten Weltkrieg wurden die persönlichen Freiheiten ebenfalls stark eingeschränkt“, erklärt Historiker Eduard Joos. Allerdings auf eine andere Art und Weise als heute: „Durch die Generalmobilmachung wurden 700 000 Schweizer in den Militärdienst aufgeboten. Diese Männer fehlten sodann in der Familie und auch am Arbeitsplatz.» Gemeinsamkeiten sieht er in der Sperrung der Grenzen und der tageweisen Schliessung der Schulen. Allerdings hat dies einen ganz anderen Hintergrund: „Aus Mangel an Heizkohle wurde der Schulbetrieb zeitweise auf fünf Tage beschränkt.“ Den Hauptunterschied sieht er allerdings beim Einkaufen: „Die Lebensmittelrationierung fast aller Güter des täglichen Bedarfs verhinderte Hamsterkäufe. Ohne die pro Person zugeteilten Rationierungsmarken gab es nichts mehr zu kaufen. Montag, Mittwoch und Freitag waren fleischlose Tage. In unserer Bäckerei hing der Spruch: „Altes Brot ist nicht hart, aber kein Brot ist hart.“ Das ist der grösste Unterschied zur Coronakrise, in der es keinen Lebensmittelmangel gibt. Altstoffsammlungen wurden durchgeführt, Gebrauchsgegenstände sorgfältig repariert.» Als ganz wichtigen Punkt nennt Eduard Joos, dass die Krise auch einen Fortschritt erzwang: «Die SBB rüstet innert Kürze ihre Dampflokomotiven auf Elektroloks um. Elektrizität war dank der Stauwerke genügend vorhanden. Kohle hingegen musste importiert werden.»

Foto: Lebensmittelkarte von 1941 (Quelle: Staatsarchiv Schaffhausen)

Andere Bedeutung der Kinos

Interessant ist, dass das gesellschaftliche Leben im 2. Weltkrieg nicht stillstand. „Vorträge, Veranstaltungen, Kino- und Museumsbesuche, Sportanlässe und sonstige gesellschaftliche Zusammenkünfte fanden trotz Krieg statt“, erklärt Mattias Wipf. Die sechs Schaffhauser Kinos spielten dabei eine wichtige Rolle: „Das Kino galt als Medium der Zerstreuung, um den Kriegsalltag zu meistern und stärkte somit den Durchhaltewillen“, so Roland E. Hofer. Insofern ist das ein gewichtiger Unterschied zur Coronakrise. Allerdings liefen damals im Kino nicht Actionfilme, sondern das Highlight war die 12-minütige Wochenschau, welche die Ereignisse der vergangenen Woche zusammenfasste. Auch Partys mit DJs und regelmässige Konzerte kannte man damals nicht. „Man tanzte allenfalls im Sommer auf dem Munot“, erklärte Eduard Joos. „Das kulturelle Leben war im Vergleich zu heute natürlich eher bescheiden.“

Häufige Strafen

Wer die Abstandsregeln nicht einhält, kann während der Coronakrise eine Geldstrafe erhalten. Wie hart gingen die Behörden 1939-1945 mit Gesetzesübertretern um?  „Die Polizeitrapporte der Landjägerstationen im Kanton zeigen, dass immer wieder Bussen wegen Vergehens gegen Rationierungsvorschriften und Verdunkelungszwang verhängt werden mussten“, erklärt Roland E. Hofer.

Bundesrat in der Kritik

Dies soll aber nicht heissen, dass man wütend auf den Bundesrat gewesen sei. Nein, viel eher wurden die behördlichen Massnahmen zu einer Normalität und das Bedürfnis wuchs, sie zu umgehen. «In den 1930er/1940er Jahren hinterfragte man die Anweisungen der politischen und militärischen Behörden viel weniger», sagt Matthias Wipf.» Man vertraute darauf, dass diese schon richtig waren. Wenn man Zeitzeugen von damals befragt, ob sie überzeugt gewesen seien vom Réduit-Plan General Guisans, von der Verdunkelung oder auch von Massnahmen wie der Pressezensur, dann antworten sie ganz klar: Man habe die Anordnungen halt einfach befolgt.» Trotzdem schwankte laut Roland E. Hofer das Bild des Bundesrates aber auch zwischendurch: „Einen Tiefpunkt erreichte es nach der für die Zeitgenossen völlig überraschenden Niederlage Frankreichs mit der Rede von Bundesrat Pilet-Golaz am 25. Juni 1940“, so Hofer. „Die Ansprache war so ungeschickt formuliert, dass daraus geschlossen werden konnte, der Bundesrat befürworte die Annäherung an das Dritte Reich und sei sogar teilweise zur Aufgabe der Eigenständigkeit der Schweiz bereit.“ 2020 erlangt Daniel Koch, der Direktor des BAG (Bundesamt für Gesundheit) mit dem Spitznamen „Mr. Corona“ fast schon Kultstatus. Da drängt sich natürlich die Frage auf: Gab es in der Politik in den 40er-Jahren auch eine solche Symbolfigur?  „Der in weiten Kreisen unbestrittene Held, der den Bundesrat in den Hintergrund drängte und dessen Bild in vielen Häusern hing, war General Guisan“, konstatiert Roland E. Hofer. Er war nicht nur Sympathieträger, sondern wurde „dank kluger medialer Inszenierung zum Führer des Widerstandes“.

Spanische Grippe

Laut den Schaffhauser Historikern gibt es viele Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Corona und dem 2. Weltkrieg. Stadtarchivar Peter Scheck sieht dies anders und winkt beim Vergleich kategorisch ab: „Die Massnahmen und Reaktionen zeigen vielmehr interessante Parallelen zur Spanischen Grippe von 1918. Eine Pandemie, der schweizweit 25 000 und weltweit 50 bis 100 Millionen Menschen zum Opfer fielen.“ Laut Peter Scheck reagierten der Bundesrat und die Kantone 1918 zu zögerlich. Doch danach schnell und konsequent: Versammlungsverbot, Schulschliessung, Gottesdienste und Feste mussten abgesagt, Telefonhörer regelmässig desinfiziert werden. «Bei Missachtung drohten drakonische Bussen», so Scheck. «5000 Franken oder alternativ drei Monate Gefängnis.» Zum Vergleich: Ein Arbeiter verdiente damals 250 Franken im Jahr. Auch die Verharmlosung zu Beginn der Krise schlug sich in einem Schaffhauser Leserbrief von 15. August 1918 nieder: „Alles nur wegen der bösen Grippe (…). Was schert uns die Grippe. Unsere weise Obrigkeit wird schon dafür sorgen, dass die Krankheit am Rheine Halt macht.“

Foto: Tote durch die Spanische Grippe in Schaffhausen. (Quelle: Staatsarchiv Schaffhausen)

Normalität liess auf sich warten

Peter Scheck unterstreicht zudem, dass es fast ein Jahr ging, bis nach dem Ausbruch der Spanischen Grippe das Leben in der Gesellschaft wieder seinen normalen Lauf nahm. Im 2. Weltkrieg war das noch extremer. „Der Bundesrat hat offenbar gefallen am Notrecht gefunden“, erklärt Mattias Wipf. Erst sieben Jahre nach Kriegsende beendete die Volksinitiative mit dem Titel „Rückkehr zur Demokratie“ das Regime der Vollmachtserlasse. Insofern sind wir 2020 in einer komfortablen Lage, dass wir uns über einige Wochen bis Monate des Stillstandes, der wirtschaftlichen Einbussen, aber auch der Entschleunigung ärgern.

Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am 15. April 2020.