Das Theater Kanton Zürich veränderte am Dienstagabend in Oberstammheim das Stück Andorra von Max Frisch auf eine sehr kreative Art. Die brutalste Szene jedoch fehlte. Eine Theaterkritik von Hermann-Luc Hardmeier.
Der Schweizer Erfolgsautor Max Frisch hat mit Andorra 1961 ein Theaterstück geschrieben, das eine Messerscharfe Botschaft hat. Der Protagonist Andri gerät völlig unverschuldet in einen Tornado voller antisemitischer Vorwürfe und wird von der Gesellschaft als Jude abgestempelt und diffamiert. Die Geschichte endet schlussendlich mit seinem Tod. Andris Halbschwester versuchte seine Ermordung gegen den Widerstand der Andorraner zu verhindern und wird zum Schluss wahnsinnig. Mit Andorra ist nicht der echte Kleinstaat gemeint, sondern der Ort diente Frisch als literarische Parabel, um vor den Folgen von Antisemitismus, Mitläufertum und einer Unkultur des Wegschauens zu warnen. Vermutlich kritisierte Max Frisch mit Andorra das Verhalten der Schweiz im 2. Weltkrieg angesichts des Holocausts im Nachbarland. Auch Deutschland selbst könnte gemeint sein. Am Dienstagabend nun hatte das Theater Kanton Zürich im Schwertsaal in Oberstammheim eine neue Inszenierung von Andorra aufgeführt. Um es vorwegzunehmen: Max Frisch wurde dabei auf eine erfrischende Art und Weise komplett auseinandergenommen. Die Aufführung begann in einer Klinik oder in einem Krankenhaus, in welchem die verrückt gewordene Barblin als Patientin eingeliefert wurde. Um ihr Trauma zu verarbeiten, hat sie einen sonderbaren Plan: Mit dem Pflegepersonal spielt sie die Geschichte nach. Die Erzählung geschah also in einer Rückblende, in einem Theater innerhalb eines Theaters. Die Angestellten der Klinik übernahmen nun die Rollen der Andorraner und behandelten Andri genau so mies wie in der Ursprungsfassung von Max Frisch. Technisch wurde das vom Theater Kanton Zürich sehr spannend gelöst: Via Beamer wurde jeweils ein Bild mit Berufsbezeichnung und «normaler Kleidung» eingeblendet, welche Figur aus der echten Geschichte gerade dargestellt wurde vom Pflegepersonal. Zudem wurde eine weitere Metaebene eingebaut: Immer wieder wurden während der Aufführungen Filmausschnitte eingeblendet, welche die echte Story von Andrins Schicksal erzählen sollten. Diese Filmausschnitte waren im Stile von Medical Detectives abgedreht: Mit Zeugenaussagen, Statements von Polizisten und halbgaren investigativen journalistischen Ermittlungen. Der Zuschauer hatte daher eigentlich zwei Handlungsstränge und zwei Theaterstücke zu bewältigen: Die Filmausschnitte und das «Rückblende-Spiel» von Barblin in der Klinik. Diese Aufgabe war anspruchsvoll, hatte jedoch grossen Unterhaltungswert und forderte die Gäste kognitiv heraus. Die Medical-Detectives-Version hatte zudem den Vorteil, dass es die Zeitlosigkeit des Stückes unterstrich. Insgesamt war der Spagat zwischen Werktreue, Film und Schauspiel eine sehr kreative und innovative Umsetzung von Max Frischs Klassiker. Besonders gut gelungen daran war, dass man dabei auch die Männerbastion von Frisch geknackt hatte. Beim Original spielen Frauen keine wichtige Rolle. Das Theater Kanton Zürich hat jedoch Barblin ins Zentrum gerückt und liess sie die Geschichte erzählen. Einziger Kritikpunkt: Das psychisch brutalste Element von Andorra, die Judenschau, wurde weggelassen. Angesichts der Brutalität des Holocaust ist es fraglich, ob dieses zentrale und perfide Element fehlen darf. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Inszenierung von Andorra am Dienstagabend als kreativ, innovativ und absolut gelungen bezeichnet werden darf.
Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen am 30. März 2023 in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“.