„Poetryslam hat mir das Leben gerettet“

Am 1. Provinz-Slam in Andelfingen kämpften am Samstag sechs Poeten um den Siegerwhiskey. Von Hermann-Luc Hardmeier.

Bild: Der Sieger Jachen Wehrli mit dem Siegerwhiskey. Umringt von allen Teilnehmern und Moderatoren des Provinzslams. (Foto: Hermann-Luc Hardmeier. Bericht: Hermann-Luc Hardmeier)

„Es geht tatsächlich wieder los! Wir haben wieder Kultur in unserem Leben“, freute sich Moderatorin Rahel Fink. Zusammen mit Joël Perrin führte sie humorvoll durch den Abend. Sechs Künstler traten gegeneinander zum Poetryslam an. Beim Dichterwettstreit im Löwensaal in Andelfingen entschied das Publikum jeweils mit Applaus, wer eine Runde weiterkam. Das K.O.-System ähnelt jenem an einer Fussball-WM. Nur dass beim Poetenduell nicht mit Steilpässen, sondern mit gepfefferten Worten und verbalen Dribblings gegeneinander angetreten wurde.

Pinkelnder Hund

Im ersten Kampf trat der Langenthaler Valerio Moser gegen den Liestaler Dominik Muheim an. Valerio erzählte eine Story über einen Hund, der ihm scheinbar stundenlang ans Bein pinkelte. Während sich seine Hose mit Hunde-Urin füllte, sinnierte er über den besten Freund des Menschen. „Wie gemein es doch ist, dass die Menschen den Hunden Namen geben, welche diese selbst gar nicht aussprechen können.“ So beschloss der Poet kurzerhand, dem Vierbeiner einen eigenen Namen zu  geben. Bello, 500 Gramm Maroni oder Revolution standen zur Auswahl. Bei letztgenanntem Namen könnte man durch das Rufen nach dem Hund einen Staatstreich auslösen. Beim „500 Gramm Maroni“ hingegen gleichzeitig bestellen und das Tier zurückbeordern. Eine definitive Antwort blieb Valerio schuldig.

Dominik hatte ein ganz anderes Problem. Beim spontanen Babysitten wurde er mit der Aufgabe konfrontiert, die Kinder aufklären zu müssen. Er erinnerte sich zurück, dass seine eigene Aufklärung dank einem Schmudelheft während dem Altpapiersammeln passiert war. Das Publikum konnte sich nicht zwischen den zwei entscheiden. Und so schickte man sie als Zweiterteam zusammen ins Finale.

Kindergeschrei und Spaghetti-Sünden

Mia Ackermann aus St.Gallen trat nun gegen Gina Walter aus Basel an. Mia begeisterte mit einer absurden Story über ein Tram, dass sich bei starkem Regen plötzlich und unaufhörlich mit Wasser füllte. Gina hingegen konterte mit einer Liebeserklärung an ihr Leibgericht Spaghetti. Für die Halbitalienerin war klar: Wer Spaghetti schneidet, mit Ketchup isst oder sie als Nudeln bezeichnet, der ist ein „Sündenkevin“ oder ein „ehrenloser Sonnenstuhl-in-Mallorca-Reservierer“. Der Hunger der Gäste war geweckt und sie schickten Gina ins Finale. Die letzte Begegnung fand zwischen Jachen Wehrli aus dem Bündnerland und Martina Hügi aus Winterthur statt. Jachen setzte sich mit einem Text über die täglichen Familienfights mit seinen Kindern gegen das Arzttrauma von Martina durch. Sie gestand, dass sie sich heimlich in Arztpraxen schleiche, um im Warteraum zu schlafen. Neuerdings ist sie „polydoktorös“. Sie geht nun in eine Gemeinschaftspraxis. Jachen hingegen gab einen Tipp, wie man die gesamte Familie endlich wieder einmal zusammenbringt: „Einfach einmal den W-Lan-Stecker ziehen.“ Vor dem grossen Finale kam es sodann zu einer Überraschung: Der Andelfinger Musiker und Texter Urs Späti wurde auf die Bühne gebeten. Mit Badmintonschläger und viel Schwung erklärte er, dass ein Poetryslam ein reizvolles Kräftemessen sei. Allerdings auch ambivalent, denn der Spass und nicht der Wunsch auf einen Sieg solle im Zentrum stehen.

Poetryslam als Ausweg

Die Finaltexte waren allesamt stark. Gina breitete die Gefühlwelt der Riesenschildkröte „Lonesome George“ aus. Das Duo Valerio und Dominik berichteten über ihren Besuch an einer Weinmesse. Der Erlebnisbericht sowie der Slam endeten feuchtfröhlich. Da sie die Zeit überzogen hatten, wurden sie von den Moderatoren von der Bühne „weggekitzelt“. Jachen wählte nicht die humorvolle Schiene. Er berichtete über einen persönlichen Schicksalsschlag. Er hatte drei beruflich bedingte Burnouts. Klinikaufenthalte und dunkelste Gedanken inklusive. Erst seine Familien und das Texteschreiben konnten ihm helfen. „Poetryslam hat mir buchstäblich das Leben gerettet“, erklärte er nach seinem Auftritt. Er hatte damit die Besucher berührt und durfte den Siegerwhiskey zum Schluss in die Höhe stemmen. Der Abend zeigte die gesamte Bandbreite des Poetryslams und war ein grosser Erfolg. „Wir möchten diese Veranstaltung unbedingt wiederholen“, bilanzierte Rahel Fink. „Es wäre schön, wenn wir vielleicht drei Mal jährlich einen Provinzslam veranstalten könnten.“

Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am 31.05.2021

Eine Wundertüte mit klarer Botschaft zur Wiedereröffnung des Stadttheaters

Die erste Vorstellung im Stadttheater Schaffhausen nach der Coronapause verwirrte und begeisterte die Zuschauer zugleich. Eine Theaterkritik von Hermann-Luc Hardmeier.

Bild: Zugemüllt und vernebelt. Die Umweltverschmutzung und der einfluss des Menschen dabei wurden am Dienstag im Stadttheater Schaffhausen schonungslos angeprangert. (Fotos: Melanie Duchene, Bericht: Hermann-Luc Hardmeier)

„Es ist toll und schön, dass wir wieder spielen können“, freute sich Kulturbeauftragter Jens Lampater auf die erste Vorstellung nach der Coronapause. Damit der Wiedereinstieg fulminant wird, hatte sich das Stadttheater dafür einen besonderen Leckerbissen ausgesucht. Ein Stück des Theaterensembles Ontroerend Goed unter der Leitung von Alexander Devriendt. «Mir gefällt an ihren Aufführungen, dass sie starke, eigenständige Stücke auf die Beine stellen und nicht einfach zum 37. Mal Shakespeares Sommernachtstraum oder Brechts Dreigroschenoper einspielen und vielleicht ein bisschen modernisieren», so Lampater. «Es ist konzeptionell und strukturell eine ganz andere Art von Theater.» Was das bedeutet, konnten die Schaffhauser bei den drei bisherigen Auftritten in der Munotstadt miterleben. Einmal errichtete das Ensemble ein Spielcasino auf der Bühne, bei welchen die Zuschauer an den Schalthebeln der Finanzmärkte mitwirken konnten. Einmal eine Abstimmungsarena, bei welchem Schauspieler in einem Knock-Out-System der Rhetorik zum Opfer fielen und ein anderes Mal erzählte die Theatergruppe die gesamte Weltgeschichte innerhalb von eineinhalb Stunden. Rückwärts wohlgemerkt. Kein Wunder waren bei diesen innovativen und partizipativen Ideen die fünfzig Tickets für die Aufführung schnell ausverkauft. Um was es genau ging, konnte man dem Programmheft nur ansatzweise entnehmen. Eine Wundertüte zur Wiedereröffnung der Theaterbühne. Das klang vielversprechend.

Seltsames Chaos

Zunächst begann das Stück unspektakulär. Einsam und alleine stand ein Baum auf der Bühne. Rot funkelnd und majestätisch baumelnd ein einzelner Apfel an einem Ast. Die Schauspieler bewegten sich seltsam rückwärts, verhielten sich teilweise kurios und sprachen ein seltsames Kauderwelsch. Selbst eingerostete Englischfans bemerkten schnell, dass dies nicht die versprochene Landessprache aus Grossbritannien war, welche man zu hören bekam. Der Baum auf der Bühne wurde misshandelt, Äste zerbrochen, ausgerissen und schliesslich wurde die Pflanze weggeworfen. Als wäre das noch nicht genug, regnete es bunte Abfallsäcke von der Decke und eine seltsame goldene Statue wurde in Einzelteile vor das Publikum geschoben und aufgerichtet. War das Dadaismus? Provokation? Oder einfach ein Chaos, welches hier vorgesetzt wurde? Die Zuschauer waren ratlos, bis es langsam dämmerte. Die Schauspieler sprachen rückwärts.

Plötzlich macht alles Sinn

Nach der Hälfte der Vorstellung trat eine Akteurin vor den Vorhang und sprach plötzlich in „normalem“ Englisch. Eine Leinwand wurde heruntergelassen und das ganze Geschehen auf der Bühne wurde über den Beamer ab Band rückwärts nochmals abgespielt. Jetzt machte auf einmal alles Sinn. Die goldene Menschheitsstatue wurde umgerissen, die bunten Abfallsäcke eingesammelt. Die Menschen verschwanden und übrig blieb nur der Baum. Es war in der Rückwärtsschau faszinierend, welche Details und Verhaltensweisen man übersehen hatte und nun verstand. Das Stück hatte jetzt auch eine klare Botschaft. Eine Parabel, die vor der Klimaerwärmung und die Zerstörung der Umwelt durch die Menschen warnt. Der Baum der Erkenntnis blieb übrig. Die Apokalypse und die Verschmutzung konnten zwar auf der Bühne rückgängig gemacht werden. Doch schaffen wir das auch im echten Leben? Der Auftakt in den Theatersommer ist dem Stadttheater damit nicht nur geglückt, sondern regte auch intensiv zum Nachdenken an.

Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am Donnerstag, 6. Mai.

„Neuhausen hat mehr zu bieten als den Rheinfall“

Neuhausen kann man nun digital erleben. Das Ortsmarketing lanciert eine App, die eine ungewöhnliche Stadtführung ermöglicht. Von Hermann-Luc Hardmeier.

Bild: Die Lokomotive auf dem SIG-Areal ist nur eine von zwölf Station der digitalen Stadtführung von Olivier Alther, Markus Bührer und Levin Germann (v.l.n.r.) (Foto: Hermann-Luc Hardmeier. Bericht: Hermann-Luc Hardmeier)

Wissen Sie, was die Neuhauser Bahnhofstrasse mit der Pariser Champs-Élysées gemeinsam hat und warum ein russischer Zar einst in Neuhausen übernachtete? Diese und andere Infos über die Rheinfallgemeinde gibt es mithilfe einer neuen App zu entdecken, die vom Ortsmarketing Neuhausen am Rheinfall initiiert wurde.

Doch der Reihe nach. Im Oktober 2020 trat Markus Bührer vom Ortsmarketing an die zwei Informatiker Levin Germann und Olivier Alther von der Explorial GmbH heran. Die zwei haben eine App mit verschiedenen Trails entwickelt. Jeder Trail entspricht einer Schweizer Stadt, in welcher virtuelle Führungen mit einem Rätselspass verknüpft werden. „Das Ziel des Trails Neuhausen ist es, die Leute zu bewegen, den Ort neu zu entdecken“, erklärt Markus Bührer. Dem Zeitgeist entsprechend sollte die Führung virtuell sein und sich ganz wesentlich von anderen Angeboten unterscheiden. „Es ging uns nicht darum, dass die Touristen mit der App die gewöhnlichen Sehenswürdigkeiten abklappern. Neuhausen ist mehr als nur der Rheinfall.“ Das Ortsmarketing beauftragte den Nachtwächter und Lokalhistoriker Martin Harzenmoser damit, den Inhalt der App auszuarbeiten. Es sollten historische Leckerbissen serviert werden, welche den Touristen und Einheimischen ein ganz anderes Erlebnis der Stadt ermöglichen. „Wir sind schon ziemlich stolz auf das Resultat“, so Markus Bührer. Auf 12 Posten in der Stadt verteilt gilt es, versteckte Schätze und Geschichten zu entdecken. Und Aufgaben zu lösen. Es geht thematisch um die Industrie, die Rebberge, den Fischfang, die Gastarbeiter und, und, und. Das abwechslungsreiche Gesamtpaket lockt mit historischen Informationen, aber unterhält auch mit Funfacts.

Stolperstein Distanz

Natürlich geht so ein Projekt nicht ohne Stolpersteine über die Bühne. Erstens galt es, neutral zu sein und nicht eine Firma oder einen Betrieb zu bevorzugen in der Auswahl der Sehenswürdigkeiten. Und zweitens ist die Grösse der Ortschaft durchaus ein Problem. „Spannend wäre natürlich nicht nur das Rheinfallbecken, sondern auch der Galgenbuck. Aber wir mussten Abstriche machen, damit wir eine kompakte Führung anbieten können“, so Markus Bührer. Die Führung sollte maximal zwei Stunden dauern und musste sich deshalb auf sehenswerte Objekte im Zentrum beschränken.“

Zündender Funke in Prag

Ohne Prag gäbe es die App wohl nicht. Darin sind sich die zwei Programmierer Olivier Alther und Levin Germann einig. 2018 sind die zwei mit einigen Freunden in die tschechische Hauptstadt gefahren. „Da uns eine gewöhnliche Stadtführung zu wenig interaktiv war, besuchten wir einen Escape-Room“, erklärte Olivier Alther. „Wir hatten grossen Spass, sahen aber nichts von der Stadt. Da entstand die Idee, man müsste doch beides kombinieren und in einer App anbieten können.“ Gesagt, getan. Im Sommer 2020 entstand das erste Quiz für die Stadt Schaffhausen und bis Ende 2021 soll ein gutes Dutzend Städte verfügbar sein. „Man muss Bilderrätsel lösen, schätzen, Texte schreiben und einiges mehr“, verrät Levin Germann. Alle Überraschungen will er aber noch nicht preisgeben.

Positiver Start

Die App ist seit wenigen Wochen verfügbar und scheint Touristen sowie Einheimischen gut zu gefallen. Trotz wenig Werbung wurde es bereits oft gespielt. Der Spagat zwischen Spass und Informationsvermittlung scheint gut gelungen. Die App bietet eine erfrischende Abwechslung zu einer herkömmlichen Stadtführung und an dieser Stelle eine Entwarnung: Der Rheinfall kommt natürlich auch vor.

Erschienen in der Zeitung „Schaffhauser Nachrichten“ am Mittwoch, 28. April 2021. Von Hermann-Luc Hardmeier.