Im neuen Buch des Historikers Dr. Matthias Wipf kommen 35 Zeitzeugen zur Bombardierung von Schaffhausen im Zweiten Weltkrieg zu Wort. Einer davon ist Gerhard Wüst aus dem Zürcher Weinland. Er verlor an diesem Tag beinahe sein Leben. Von Hermann-Luc Hardmeier
Fotos: Screenshots: Landbote, Bilder Staatsarchiv Schaffhausen, Privatarchiv Gerhard Wüst und Hermann-Luc Hardmeier.
Rauch steigt über der Munotstadt auf. Es wüten Brände, 40 Menschen sterben und 270 bleiben verletzt zurück. Am 1. April 1944 griffen 15 amerikanische B24-Bomber des Typs Liberator die Grenzstadt an. Sie verwechselten das Ziel mit Ludwigshafen in Deutschland. Die fürchterliche Katastrophe hat sich bei vielen Schweizern eingebrannt wie bei den Amerikanern 9/11. Der Historiker Dr. Matthias Wipf hat zum prägenden Ereignis schon mehrfach publiziert und am Dienstag nun sein Buch «Als wäre es gestern gewesen» vorgelegt. Es schliesst die letzte Forschungslücke zum Thema und gibt 35 bisher meist unbekannten Zeitzeugen eine Stimme. Es sind erschütternde Schicksale, welche neben der Faktenlage nun dem Krieg ein Gesicht geben. Da viele Zeitzeugen hochbetagt sind, war es eine der letzten Gelegenheiten, um sie zu befragen. Darunter befindet sich beispielsweise Ex-Ständerat Bernhard Seiler, dessen Vater zu nahe am Fenster stand und vom Sog einer Explosion auf die Strasse geworfen wurde und verstarb. Hans Bader, dessen Eltern beim Volltreffer am Bahnhof starben, und er somit zum Vollwaisen wurde. Hans Langhart, der sein Bein verlor, weil man im Spital zu lange gewartet hatte, um schlimmere Verwundete zu versorgen. Ursula Oertli-Huber, die als Baby von ihrer Schwester aus den Flammen gerettet wurde. Henri Eberlin, der seine fünf Brüder aus einem brennenden Haus rettete und auch Margaretha Tanner, die einzige Miss Schweiz aus Schaffhausen, welche für Verwundete ihr Spitalbett räumen musste. Auch Bestseller-Autor Erich von Däniken war damals als Bub in Schaffhausen. Er war an jenem Morgen in der Schule und eine Bombe verfehlte nur knapp das Gebäude. «Scheiss Krieg», entfährt es ihm auch heute noch, als er über die Ereignisse spricht.
Weinland in der Anflugschneise
Die Opfer waren jedoch nicht nur in Schaffhausen, sondern auch auf der anderen Seite des Rheins zu beklagen. Das Zürcher Weinland ist über eine Brücke direkt verbunden. Genau in der Anflugschneise der Bomber spielte an jenem 1. April Gerard Wüst mit seinem Holz-Lastauto vor dem Haus. Es befindet sich gleich neben der reformierten Kirche in Feuerthalen. Die amerikanischen Maschinen hatten an jenem Tag eine Tochterfirma der IG-Farben in Ludwigshafen im Visier. Dort wurde unter anderem das Giftgas Zyklon-B hergestellt, welches die Nazis für ihre Verbrechen in den KZs verwendeten. Die Angreifer kamen durch starke Winde, Navigationsfehler und ihre Unerfahrenheit stark vom Kurs ab und suchten ein «Target of Opportunity», also ein Gelegenheitsziel, um nicht mit ihren Bomben zurückkehren zu müssen. Der Nebel an diesem Tag erschwerte die Operation zusätzlich. Just über Schaffhausen war die Wolkendecke aufgerissen und weil die Stadt auf der «falschen Seite» des Rheins lag, glaubte man, eine deutsche Stadt vor sich zu haben. Eine Staffel bemerkte noch rechtzeitig den Irrtum und warf die Bomben über dem Kohlfirstwald ab. Die Mutter von Gerhard Wüst hörte die Einschläge und sprang aus dem Haus. Sie schnappte sich den Fünfjährigen und rannte mit ihm in den Keller. Sekunden später fiel eine Brandbombe in das Nachbarhaus, eine weitere landete im Garten und eine dritte traf das Haus von Gerhard Wüsts Familie. Sie fiel durch das Dach und den Estrichboden und explodierte im oberen Stockwerk. Sofort brach ein Brand aus. Mit Hilfe der Nachbarn konnte das Feuer eingedämmt werden und der Schaden einigermassen in Grenzen gehalten werden. Noch heute zeugen verschiedenfarbige Ziegel am reparierten Dachstock vom Einschlag. Gerhard Wüst lebt heute wieder im Elternhaus und erinnert sich am 1. April daran, dass sein Leben beinahe geendet hätte.
Zwischentitel: Unbürokratische Hilfe
Schaffhausen und das Zürcher Weinland waren damals eng verknüpft. «Man half sich nach der Katastrophe gegenseitig mit Handwerkern aus und unterstützte sich sehr unbürokratisch», erklärt Matthias Wipf. «Die Feuerwehr aus Feuerthalen war beispielsweise eine der ersten, welche beim Schaffhauser Museum Allerheiligen eintraf und mit den Löscharbeiten begann.» Im Buch erfährt man nicht nur spannende und tragische Schicksale, sondern sieht auch viele bisher ungezeigte Fotos. Beispielsweise vom beschädigten Haus der Familie Wüst, Pfadi- und Schulfotos der Zeitzeugen oder von einem Blindgänger unter den Bahngleisen. Matthias Wipf stellt fest, dass das Interesse an Lokalgeschichte stark zugenommen habe. «Mein Buch ist eine Art Generationenporträt und soll dafür sorgen, dass die Erzählungen der Betroffenen nicht vergessen gehen. Am meisten freuen würde es mich deshalb, wenn es auch an Schulen gelesen würde.»
Von Hermann-Luc Hardmeier. Erschienen in der Zeitung „Der Landbote“ am Dienstag, 1. März 2022.